Mittwoch, 2. Juni 2010

Houston, wir haben ein Problem

Um nochmal einen vergangenen Post von mir zu rekapitulieren:
ein etwas quietschiges Mädchen mit linkischem Charme und recht limitiertem tänzerischen Ausdrucksvermögen gewinnt mit einem ganz netten (man mag es noch nett finden, solange man nicht medialer Dauerbeschallung ausgesetzt ist, was mir als jemandem, der weder freiwillig Radio hört und nur selten fernsieht, freundlicherweise erspart bleibt) Liedchen, das eigentlich den kleinsten weitestgehend gemeinsamen Grundkonsens bedient, den europäischen Songcontest.

Man kann das durchaus wohlwollend zur Kenntnis nehmen; auch weil man Augen- und Ohrenzeuge jener sinnfreien Veranstaltung wurde und inmitten dieser Anhäufung geradezu unglaublicher cerebraler Insuffizienzen (Beispiele gefällig? Schlimmste französische Atzenmusiktanzgeschwader, eine Portugiesin, die mit einem Vibrato aus der tiefsten Celine- Dion- Hölle Erinnerungen an Monty Pythons "Throatgrobbler Mangrove" weckt, ein russischer Heulbeutel, der eine Frauenzeichnung anjodelt, ein singender spanischer Pudel mit dem kompletten Staatszirkus auf mexikanischen Pilzen im Gefolge und ein kachektischer Däne, ca. 57 Jahre alt, mit schlechtsitzendem Achtziger- Jahre- Toupet und erschreckend sackbetonter Lederhose)der deutsche Beitrag noch als der Erträglichste zu identifizieren war.

Man muß nun nicht gerade die Geburt einer Nation miterlebt haben; der mediale Superhype- GAU, der danach folgte, als wäre der Gekreuzigte höchstselbst von der Leiter gestiegen, um ins Volk zu winken, ist natürlich erwartbar geisteskrank.
Selbstverständlich darf das jedem soweit auf die Ketten gehen, wie er davon ungewollt tangiert wird.
Aber der eigentliche Antagonist dieser besinnungslosen Begeisterung ist auch nicht weniger zurechnungsfähig.

Man könnte diese ganze Hysterie ja als infantiles Massenphänomen abtun, den Kopf schütteln und versuchen, es weitgehend zu meiden, wenn der Plebs gerade mal wieder warhol'sche 15 Minuten Kopf steht.
Aber das wäre nicht intellektuell genug... einen Beweis für seine geistige Überlegenheit ist man dem Gelumpe da draußen noch dringend schuldig. Und natürlich, da das Mädchen gut aussieht, sich schminkt und die Beine rasiert, was sie zum potentiellen Sexobjekt macht, Gender Studies.
Was wäre eine kritische Betrachtung eines von Deutschen gewonnenen Wettbewerbs, sei es nun die Fußball- WM, der ESC oder die südanatolische "Tanz im Maulwurfskostüm"- EM ohne folgende abzuarbeitende Topoi bzw. Positionen:
a) als rastloser Mahner und Warner vor nationaler Großmannssucht
oder b) Gender Studies
oder c) beides zusammen?

Also kocht man sich fünf Liter schwarzen Kaffee, rückt den Bürostuhl zurecht und verbringt geschätzt 3 1/2 Stunden damit, folgenden Riemen zusammenzuhämmern und damit dem Phänomen endgültig die kulturelle Gewichtung zu geben, die es ansonsten in unserer Wegwerfzeit niemals erreicht hätte:


Klar ist nämlich, dass Lenas Erfolg nicht auf artistischen Kriterien beruht. Ihre sängerischen Qualitäten sind bescheiden, ihre Bühnenshow ist minimalistisch. Doch was ihr an Stimme fehlt, gleicht sie durch Stimmung aus; ihre schlaksigen Bewegungen, die noch von pubertärem Defekt-Management geprägt sind, entwickeln eine Strahlkraft, die etwas lolitaartig Ungesundes hat. Dieses magische Fluidum einer ein bisschen beschädigt wirkenden Kindfrau haben die Zuschauer nicht nur gespürt, es wurde ihnen mit großer Kelle verabreicht, denn was Lena vortrug, war so ziemlich der krasseste Anti-Emanzipations-Song, der sich denken lässt: Mach mit mir, was du willst, ich folge dir überall hin - das ist der Gehalt von "Satellite".

Nun steckt in dem gesungenen Bekenntnis, von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt zu sein und sonst gar nichts, genau dieselbe Denkungsart, und schon bei der schönen Marlene, der das vortelevisionäre Europa zu Füßen lag, gab es da diesen von sadomasochistischen Impulsen getragenen Umkehreffekt der Geschlechterverhältnisse, den andere Nationen den deutschen Fräuleins von jeher und immer wieder gern anfantasieren: nämlich den Effekt der Beherrschung durch Selbstunterwerfung.

Mit einer Art von übermütigem Autismus zappelt sich Lena gestisch frei von den Fesseln, die sie besingt. Sie scheint zu kichern über ihre gewaltige Wirkung auf das inzwischen transkontinentale Publikum, so wie Lulu über die Spur der von ihr angerichteten Verheerung unbeschwert und achselzuckend hinweggeht. Hier liegt der metaphysische Kern eines Wettbewerbssieges: es ist die Macht einer erotischen Männerphantasie, für die man sich schämt, weshalb in der Öffentlichkeit nun sehr viel über die Mechanismen der Talentsuche, über die angemessenen Formen des Nationalstolzes und über die Wiederentdeckung des bürgerlichen Mittelstands in Gestalt einer hübschen Abiturientin diskutiert werden wird. Dabei geht es um nichts anderes als einen Abgrund von Erotik.

(Quelle: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1193177/)

Verdammt, ertappt! Nun dachte ich während der ganzen Veranstaltung tatsächlich ununterbrochen daran, mir das Mädel als willige Sexsklavin heranzuziehen, und das wohlweislich nur wegen des Textes.

Schön, daß sich unsere Intellektuellen, die sich dieses Wort am liebsten auf die Stirn tätowieren würden, noch dermaßen ausführlich mit den wahrhaft dringlichen Problemen unserer Zeit beschäftigen.

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