Freitag, 6. August 2010

Aus dem toten Winkel

Schreiben, das weiß jeder, der sich auch nur annähernd professionell damit beschäftigt, ist Arbeit.
Wenn man längere Zeit aus der Übung ist, ist man komplett draußen. Keine Inspiration kommt einem da zu Hilfe, die einen schlagartig wieder sechs Stunden am Stück wie wahnsinnig in die Tasten hauen läßt, wie das der Fall ist, wenn man sich eine Arbeit vorgenommen hat und sie schon länger verfolgt.
Nein, ist man aus der Übung, fallen einem die einfachsten Dinge schwer; Metaphern sind ranzig, der Satzbau auch nach mehrmaligen Versuchen eine pure Katastrophe, und die Muse, die einem in Momenten kreativer Höhepunkte barbusig auf den Schoß hüpft, muß erstmal mühsam wieder aus dem Keller hervorgekramt werden und hat anfangs etwas Quasimodohaftes.

Zumindest mir geht es gerade so.
Nach mehr oder minder erzwungener Kreativpause taste ich mich im absoluten Kriechgang wieder an das Sujet heran... rückblickend hat das bei "Erste Liebe" noch lange nicht so gut funktioniert, wie ich dachte.
"Erste Hürde" wäre durchaus der adäquatere Titel gewesen.

Ich weiß noch nicht, wo alles hinführt; jeder Tag ist ein Kampf gegen mich selbst, zuerst einmal die Überwindung, tatsächlich wieder tätig zu werden und danach der, das Ergebnis auf die Menschheit loszulassen, sich bewußt werdend, daß es negative Kritik hageln wird, ja, hageln MUSS, um daraus zu lernen und zu seinem selbstgesetzten Standard zurückzukehren.

Schön, wenn man sich wieder den Luxus erlauben kann, so etwas als Problem zu betrachten.

Heutiges Ergebnis meiner Bemühungen ist folgende kleine Geschichte. Ich weiß nicht, ob sie gut ist; mögen würde ich sie jedenfalls, wenn sie jemand anderes verfaßt hätte. Jedenfalls wollte ich sie einfach aufschreiben; das habe ich hiermit getan.


Der G_lgenm_nn


Die sterbende Erdkröte lag im Rinnstein, und als letztmögliche Bewegung zuckte eines ihrer Hinterbeine noch krampfhaft... ein verzweifeltes Rudern im Straßenstaub, der an ihrer Unterseite klebte wie Panade, während der obere Teil ihres Körpers in der Sonne bereits dermaßen vertrocknet war, daß er an gebeiztes Leder erinnerte.
Ob ihre milchig trüben Augen ihn wahrnahmen, ob sie überhaupt noch etwas sah: er konnte nur spekulieren.
Aber dennoch beschloß er, freundlich zu sein: es war kein Fehler, im Angesicht des Todes ein gewisses Maß an Empathie zu zeigen.
Er legte sich auf das Trottoir, sein Gesicht in Höhe des zuckenden Krötenkörpers, und drehte den Kopf in dessen Richtung.
"Na, das war's dann wohl, mein Freund?"
Das klang unangemessen sarkastisch, wie er sich selbst eingestehen mußte. Vielleicht sollte er als Zeichen seiner durchaus ehrenwerten Absichten versuchen, anderweitig Kontakt zu dem dahinsiechenden Tier aufzunehmen, in der vagen Hoffnung, den nebulösen Schleier verlöschenden Lebens zu durchbrechen.
"Quak", sagte er. "Quak quak?"
Die Sonne, die trotz der frühen Morgenstunde bereits unbarmherzig den Asphalt aufwärmte, trocknete langsam den Urin im Schritt seiner verdreckten Hose.

Heute war ein guter Tag zum Sterben.
Das war sein erster Gedanke, als er an einem schartigen Stein seinen Stiefelabsatz von den letzten Überresten der zerstampften Erdkröte befreite.
Er hatte den Beweis angetreten: lag man heute irgendwo und wartete auf seine letzte Stunde, gäbe es eine gute Chance, das Eingreifen einer höheren Macht herbeizurufen, die dem ganzen Elend mit einem Schlag ein Ende bereiten würde.
Hooka Hey, wie die Indianer sagten... er würde sich in aller Ruhe auf die Weide ein gutes Stück außerhalb des Dorfes legen und dort auf sein Ende warten, bereit dazu, den Atem Gottes zu spüren, der ihn aus seinem niederen Dasein befreien würde.
Hooka Hey.

Die Mittagshitze schien die Luft um ihn herum in eine gallertartige Masse zu verwandeln, als er im frischgemähten Gras lag, das morsche, wurmstichige Gebälk der Pferdekoppel hinter sich, das sich seinem Blick entzog, so sehr er es auch suchte.
Er suchte auch die Gemeinsamkeit: ein verwitterter Pfosten, ausgewaschen und von der Sonne dermaßen vertrocknet, daß ein Funke reichen würde, ihn zu entzünden und gnadenlos zu vernichten, alles um ihn herum mit in den Untergang reißend.
Er würde dem zuvorkommen: er tat der Menschheit und sich selbst den Gefallen, im gleißenden Licht der in ihrem Zenith stehenden Sonne auf die Dehydration zu warten, die seine Nieren versagen lassen würde.
Regungslos lag er da, selbst als eine blauschimmernde Schmeißfliege träge über sein Gesicht kroch.
Zeit, sich zu erinnern, was ihn hierhergeführt hatte... unterstützt wurde dieses Vorhaben durch den fliegenbeininduzierten Niesreiz, der ihn plötzlich überkam und seinen Oberkörper in die Höhe riß, als er schlagartig in seine offene rechte Hand prustete.
Im Gegenlicht betrachtete er seine dürren, zitternden Finger und den hauchdünn zerfaserten Schleim dazwischen, fein wie ein Spinnennetz.
Fast war es ihm, als seien die Fäden, die ihn in den letzten Jahren immer weiter eingewickelt hatte, bis es ihm unmöglich war, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien, nun endlich sichtbar gemacht.
Das "Dr." vor dem Namen in seinem Personalausweis: es war bereits so lange her, daß er sich kaum noch daran erinnern konnte, wie es zustandegekommen war.

Er war immer noch da.
Ein letztes Rot stand über dem Horizont, wie ein aufgespannter Streifen blutiger Gaze.
In seiner Schulzeit hatten sie ein Spiel, das man Galgenmännchen nannte: er erinnerte sich, als sei es gestern gewesen, die zurückliegenden Jahre gnädig überspringend.
Man mußte ein Wort erraten, indem man einzelne Buchstaben nannte, um die Striche aufzufüllen, die an die Schultafel gemalt waren... für falsche Buchstaben wurde ein Kreidegalgen daneben errichtet, an dem- konnte man das Wort nicht nennen- ein Strichmännchen baumelte.
Erriet man das Wort vorher, fehlte dem Männchen ein Arm oder ein Bein, aber es durfte weiterleben. Es MUSSTE weiterleben, mit dem Kopf in der Schlinge.
Wer hatte geraten? Wie lautete das Wort?
Er wußte es nicht, nur ungefähre Vermutungen zirkulierten in seinem Kopf, nicht greifbar, nicht diskutabel, nicht mehr ernstzunehmen, seit er sich aus den Kreisen verabschiedet hatte, in denen er früher ein gerngesehener Gast war.
Nun war er nur noch der G_lgenm-nn, darauf wartend, endlich vervollständigt zu werden.

Der Vollmond war nun deutlich von seinem Liegeplatz aus zu sehen... in seinem kalten Widerschein starrte er in dessen pockennarbiges Gesicht.
Fast war es ihm, als erhöbe die Liebe ihr häßliches Haupt.

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